Gitta Haller

 

Jahrgang 1928, Witwe, ein Kind, zwei Enkel,

am Aachener Markt geboren

Gitta Haller (zur Tonbildschau...)
 

 

Wer kennt Sie nicht? „Et Gitta“ mit ihrem Akkordeon und mit ihren Sketchen. Sie bringt Aachen über Jahrzehnte zum Lachen. Nicht nur im Karneval, bei den Seniorenveranstaltungen der Stadt Aachen und beim Öcher Schängche, sondern auch bei Geburtstagen, Jubiläen und bei der Mullefluppet-Preisverleihung steht Gitta immer noch gerne auf der Bühne.

 

Als wir Gitta Haller zum Interview begrüßten, rügte sie uns zuerst einmal, wie wir „Sie“ an sie sagten: „Hört mal Kinder: Ich bin ‚et Gitta’. Das ist schon immer so. Und Du bist also der Helmut und Du der Dirk, richtig?“

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Wir fragten Gitta Haller:

 

Wann war Deine erste Begegnung mit dem Karneval, wie sah der Karneval früher aus?

„Das war 1932, ich war gerade mal vier Jahre, und ich kann mich noch an paar Dinge erinnern. Da war der Karneval arm, aber herzlich. Und außerdem war das nicht ‚Karneval’ sondern ‚Fastelovvend’. Er spielte sich in privaten Häusern, in den Familien und in kleinen, alten, schönen Wirtschaften in Aachen ab. Es gab auch Bälle - für die besser Betuchten. Die Leute, die nicht viel Geld besaßen, zogen mit Musik über die Straßen. Das sahen andere Menschen, und so kam schnell ein ganzes Clübchen zusammen. Sie amüsierten sich!“

 

Wie feierte man in der Vorkriegszeit den Karneval?

„Ich wurde ja im Haus an der Goldenen Kette geboren und wohnte also eine lange Zeit mitten in Aachen. So bekam ich den Karneval und auch die Rosenmontagszüge hautnah mit. Die Session wurde damals nicht über Wochen gefeiert, sondern nur einige Tage. Eigentlich merkte man auf den Straßen nicht viel vom Karneval - in den Gaststätten und zuhause wohl. Es gab keine Openair-Veranstaltungen, wie wir sie heute kennen. Auch die Kostüme waren einfach. Man konnte sich ja aus dem Dirndl, was jedes Mädchen hatte, schnell ein Kostüm machen. Da wurden Stoffreste, die wir immer irgendwo besaßen, angeheftet. Du hattest ungeahnte Möglichkeiten. So warst Du mit kleinen Hilfsmitteln mal Bauernmädchen, mal Ungarin oder Zigeunerin. Die Jungs und die Männer zogen damals als ‚August’ oder als ‚Lennet-Kann-Verschnitt’ mit einem Köfferchen umher. Clowns, Cowboys und so weiter gab es noch nicht.“

 

Entwickelte sich der Karneval vor oder nach dem zweiten Weltkrieg?

„Eigentlich hat sich der Karneval vor dem zweiten Weltkrieg nicht entwickelt.  Durch den Krieg kam dieser Bruch, und dann ging es aus der Armut heraus so weiter, wie damals. Das Nachholbedürfnis war ja vehement. Wir wollten ja Karneval feiern. Deshalb waren wir zu Karneval und zum Rosenmontagszug mit allem zufrieden. Mit den alten, so genannten, ‚Prunkwagen’ kann man heute nicht mehr existieren.“

 

Wenn man auf einem Rosenmontagswagen steht, sieht man in viele Gesichter. Man hat den Eindruck, die Leute wollen nur „grapschen, grapschen, grapschen“. Ältere fangen den Kindern die Kamelle vor der Nase weg. Wie war es nach dem zweiten Weltkrieg? Warf man auch Kamelle?

„Kamelle konnten wir nicht werfen. Um Gottes Willen, wir hatten doch nichts! Wer gute Beziehungen nach Belgien hatte, konnte billige Bonbons werfen. Das kam aber nicht häufig vor. Kamelle kamen nur vom Prinzenwagen. Andere Zugteilnehmer warfen Luftschlangen. Die Jecken am Zugrand wollten eher den Zug sehen. Heute stehen sie mit umgedrehten Schirmen, um soviel Kamelle wie möglich zu erhaschen.“
 

Haben die Alliierten während der Besatzungszeit mitgefeiert?

„Die Belgier kannten wahrscheinlich den Karneval und feierten etwas mit - die Amerikaner ganz selten. Die Engländer feierten sowieso nicht, sie waren sehr zurückhaltend. Der Karneval wurde von den Alliierten geduldet. Wir durften uns wohl nicht maskieren, das war verboten.“

 

Wurde früher genauso viel Alkohol genossen wie heute?

„Nein, natürlich nicht. Es war ja auch kein Geld dafür übrig. Die Älteren tranken den selbstgebrauten Kartoffelschnaps. Und sie waren dann natürlich ganz schnell voll. Bier war damals schon etwas Edles. Die Leute hatten damals auch nicht das Bedürfnis, sich so zu betrinken. ‚Lachen, singen, sich freuen und alles für eine Zeitlang vergessen’ - das stand im Vordergrund. Wir waren bescheiden und verwöhnten uns mit Lachen und mit der Geselligkeit. Fastelovvend war natürlich ein größeres Fest als Weihnachten!“

 

Gitta, Du bist ein Urgestein im Aachener Karneval. Die Bühne ist Deine Heimat. Wie kam es dazu? Hast Du eine „karnevalistische“ Ausbildung genossen?

„Meine Ausbildung hatte nichts mit Karneval zu tun. Meine Mutter kam vom Theater und hat ihre vier Töchter dann alles einstudiert. Wir tanzen und sagten in Öcher Platt Menuetts aus ‚Figaros Hochzeit’ auf. Meine Mutter dichtete alles auf kindliche Texte um. Das hatte aber alles nichts mit Karneval zu tun. Wir traten überall auf, beispielsweise im Mittelstandshaus oder im Alten Kurhaus. Das haben wir jahrelang gemacht. Und dann kam der Krieg, und zuerst einmal war alles vorbei. Mein erster Mann kam auch vom Theater. Ich folgte ihm nach dem Krieg zum Theater. Fünf Jahre zog es uns nach Hamburg und nach Niedersachsen. Was war ich froh, dann später wieder in Aachen zu sein. Ich stieß so um 1950 in Aachen zum ‚Domgrafen-Ensemble’, das aus Theaterleuten bestand. Unser Repertoire bestand aus Oper, Operette, Musical, Tanz, Gesang und Sketch. Und direkt nach dem Krieg drängte mich Pitt Bauendahl (1916 - 1998) dazu, meine Fähigkeiten auch im Karneval unter Beweis zu stellen. Pitt wusste auch, dass ich so etwas konnte. So fing es an, dass ich in ‚modernerer’ Form Tanz und Musik machte.“
 

War das Akkordeon, der Quetschbüll, die ganze Zeit an Deiner Seite?

„Nein. Die Mitnahme des Quetschbülls entstand durch folgende Situation. Wir hatten mit dem ‚Domgrafen-Ensemble’ beim Verein ‚Öcher Platt’ eine Veranstaltung im Neuen Kurhaus. Unser Auftritt über zweieinhalb Stunden war auf Hochdeutsch. Und dann fragte sich der Verein ‚Öcher Platt’, ob auch ein Beitrag in Öcher Platt kommen kann. Und sie fragten mich, weil ich meiner Heimatsprache mächtig war. Mir fiel ein, dass Hein Görgen (1891 - 1980) schon für die „Tant Brigitta“ ein Lied geschrieben hat: ‚Tant’ Brigitta mit de Gittar’. Ich habe es dann dem Chef vorgesungen. Er schrieb die Noten des alten Liedes auf, weil sie nicht mehr existierten. Das Lied habe ich etwas umgedichtet und bezog es auf den Quetschbüll. Dann habe ich mich das erste Mal mit dem Quetschbüll selbst begleitet. Und so ist der Quetschbüll geblieben. Ich habe später selbst Lieder geschrieben und sie meinem Publikum vorgesungen.“

 

Können wir uns schon darauf freuen, Dich in der kommenden Session auf einer Bühne zu erleben?

„Mich erwischt Ihr nur bei den Seniorensitzungen der Stadt Aachen im Eurogress und natürlich bei den Karnevalssitzungen beim Öcher Schängche in der Barockfabrik am Löhergraben. Und dann singe ich für Euch - also auf besonderen Wunsch von karnevalinaachen.de - das Lied von der Tant Brigitta.“

 

Neben Deinem Gesang und Deinem Akkordeon unterhältst Du Dein Publikum ja  auch mit Sketchen und Reden. Wie entwickeln sich Deine Reden und Pointen?

„Es sind bei mir ja immer nur Gespräche, die ich aktuell in Aachen mitbekomme. Entweder beschreibe ich einen Geburtstag, eine Hochzeit oder einen Besuch im Schwimmbad. Ich rede also vom Zusammenkommen von Menschen, und was sie dabei denken. Du kannst auf der Bühne keine Witze erzählen. Du musst aus dem Geschehen erzählen. Es gibt Leute, die erzählen ganz tolle Witze - aber ohne Zusammenhang. Du musst ein Bild schaffen. Ich spreche auch direkt das Publikum an - aber ohne aufdringlich zu wirken. Die Leute sehen das, was ich sage. So vergessen ich auch keine Texte, weil ich ja eigentlich eine Geschichte erzähle, die ich sehe.“

 

An welche lustige Begebenheit erinnerst Du Dich gerne?

„Mensch Kinder, wenn ich Euch das erzähle … Also, Pitt Bauendahl empfing uns mal zu einem karnevalistischen Nachmittag im Elisenbrunnen. Die fingen um halb drei Uhr an, und die Leute standen bereits um ein Uhr vor der Tür. Pitt sah uns und schrie ganz laut ‚Alaaf’, und ihm fielen dann seine Zähne raus … Er kam zu uns, und fragte, ob wir Haftcreme für ihn hätten. Später ist es ihm noch mal passiert. Bei jedem Auftritt haben wir dann Pitt gefragt, ob er auch seine Haftcreme dabei hätte.“

 

Welche Veranstaltung würdest Du einem karnevalistischen Anfänger empfehlen?

Die Seniorensitzungen der Stadt Aachen im Eurogress. Dort treten alle auf, die im Aachener Karneval Rang und Namen haben. Das ist bei keiner anderen Sitzung gewährleistet.

 

Gibt es für Dich einen Lieblingsplatz im Aachener Karneval?

„Das Kommandantur-Frühstück der Oecher Penn am Rosenmontagmorgen gibt so ein herrliches Bild ab. In der Aula Carolina sitzen an langen weiß gedeckten Tischen nur Uniformierte. Was für ein schöner Anblick, das ist toll, das ist wunderbar. Ich darf da sogar als Frau darein. Es ist auch ein schönes Bild, wenn Du am Fettdonnerstag auf der Rathaus-Treppe stehst und den Menschen auf dem Aachener Markt beim Feiern zuschauen kannst. Und noch schöner ist es auf dem Burtscheider Markt. Da knubbeln sich ja die Leute. Da trinken die Menschen nicht so viel, wie auf dem Aachener Markt. Der Karlsbrunnen reißt das Publikum in zwei Hälften. Die Vorderen feiern mit, die Hinteren trinken sich die Hucke voll.“

 

Ist uns der Karneval zwar lieb aber zu teuer?

„Das liegt an den Menschen selbst. Wenn wir junge Menschen finden, die bemüht sind, den Karneval wieder ins rechte Gleis zu bringen, dann wird sich auch die Euphorie im Kaufen wieder einschränken. Heute muss man das schönste und teuerste Kostüm zu Karneval haben. Es wird ja auch angeboten. Nicht jeder einzelne muss sich so teuer einkleiden!“

 

Die bekannteste Sitzung im Aachener Karneval ist die Verleihung des Ordens „Wider den tierischen Ernst“. Wie siehst Du diese Sitzung?

„Die Verleihung des Ordens ist keine Sitzung mehr. Es ist ein karnevalistischer Festakt, eine Gala, und leider keine typische Aachener Sitzung mehr. Es fehlen zuerst einmal die Öcher im Saal. Bei der Veranstaltung sitzen zu viele auswärtige Prominente, Ritter, Bodyguards und so weiter im Saal. Und dann wird der Festakt in Hochdeutsch übertragen. Kölsch Platt verstehen die Zuschauer eher, als Öcher Platt. Hier fehlt doch was. Und das Fernsehen macht ja auch noch Vorgaben, die der Öcher Fastelovvend dann umsetzen muss, obwohl sie nicht zu uns passen.“

 

Wenn Du im Karneval das Sagen hättest, was würdest Du ändern?

„Der Karneval ist zu laut. Wenn Du heute zu Karneval über die Straßen gehst, schallt es von überall volle Pulle - direkt auf Dich zu. Das ist ein Faktor, der für mich viel kaputt macht. Es dröhnt nur Musik aus den Lautsprechern. Es ist zu laut. Wenn Du zu Karneval über die Straße gehst und willst in ein Lokal gehen, und ein Mann steht mit einem Quetschbüll vor der Wirtschaft, glaub nur, dass es da drin brechend voll wird. Es ist auch egal, ob er den Quetschbüll beherrscht oder nicht gut singen kann! Der Karneval muss wieder bescheiden und herzlich werden.“

 

Wie bewertest Du die Neuerscheinungen und Neuauflagen von Veranstaltungen, wie beispielsweise „Carnevale“ und „Florreisei-Palast“?

„Die Veranstaltungen begrüße ich. Sie finden in geschlossenen Räumen statt. Bei diesen Veranstaltungen wird deutlich, dass die Jugend ein wenig von dem Karneval mitbekommt. Wobei auch bei diesen Veranstaltungen laute Musik gespielt wird. Ich glaube, die extreme Lautstärke bekommen wir auch nicht mehr weg. Irgendwo ist aber auch noch ein bisschen Herz bei den Veranstaltungen. Also haben auch die jungen Leute das Bestreben, den Karneval zu erhalten.“

 

Bei der Suche nach neuen Karnevalsliedern gab es beim Aachener Karnevalsverein den „Chartbreaker“. Talentierte Gruppen und Einzelsänger wetteiferten um den Hit der Session. Wäre ein Wettbewerb ein Weg zu neuen Karnevalsliedern zu kommen?

„Das sehe ich überhaupt nicht so. Ein Hit kann sich erst vor vollem Saal ergeben. Wir sind hier in Aachen in der Situation benachteiligt. Bevor andere Karnevalshochburgen neue Fastelovvend-Schlager haben, wird zuerst alles ausprobiert. Die Technik macht es ja auch möglich. Dann kommt er sofort auf jede Bühne. Den neuen Schlager hörst Du und hörst Du und hörst Du. Und zu Fastelovvend können die Leute ihn summen oder sogar schon mitsingen. Bei uns in Aachen müssen die Menschen den Schlager lernen. Da kommt zuerst eine Gruppe, die beim Aachener Wettbewerb gewonnen hat. Aachen fragt sich dann: „Hast Du die Gruppe mit diesem Lied gehört? Das war ja schön!“ Du sollst vor einem Gremium auf Stimmung etwas bringen … das ist es nicht. Das Volk muss während einer ganzen Session bestimmen. So entstehen Schlager, die auch über Jahre hinweg Bestand in Aachen hätten.

Ich fand ja das Prinzenlied von Rolf IV. Gerrards, ‚Aix la Chapelle …’, so schön. Das geht so unter die Haut, und Du kannst dabei schunkeln. Die wehmütigen Schlager haben Erfolg. Es tut mir weh, dass das Lied untergeht.“

 

Mit welcher Person würden Du dich gerne über Karneval unterhalten?

„Am liebsten würde ich mich mit meiner vorherigen Generation über Karneval unterhalten, um das mitzubekommen und zu erhalten, was ich selbst nicht erlebte.“

 

 

Wir trafen Gitta Haller bei van den Daele, im Traditionshaus "Alt Aachener Kaffeestuben".